Das Jüdische Siechenheim im Jungfernstieg – eine kurze Chronologie

Das Gesellschaftshaus im Jungfernstieg


Bis in die 1960er Jahre hinein stand im Berliner Stadtteil Lichterfelde im Jungfernstieg ein stattliches Gebäude mit einer wechselvollen Geschichte. Es wurde 1870 als Gesellschaftshaus erbaut, beherbergte über 50 Jahre ein privates Sanatorium für Nervenkranke und Erholungsbedürftige das Goldstein ́sche Sanatorium wurde ab 1940 als Jüdisches Siechenheim genutzt, Ende des Krieges teilweise zerstört und schließlich 1962 abgerissen.

In der Gründerzeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstanden im Umland Berlins neue Wohnviertel für das wohlhabende Bürgertum und mit ihnen Ausflugsziele für die gehobene Berliner Gesellschaft. Die Villenkolonie in Lichterfelde, auch als Carsten`sche Villenkolonie bekannt, und das Gesellschaftshaus im Jungfernstieg 14 stammen aus dieser Zeit.

Der Architekt Johannes Otzen (1839-1911)

Der Architekt des Gesellschaftshauses Johannes Otzen (* 8. Oktober 1839 in Sieseby, Schleswig-Holstein, † 8. Juni 1911 in Berlin-Grunewald) war Architekt, Kirchenbaumeister, Stadtplaner, Architekturtheoretiker und Hochschullehrer. Er wirkte vor allem in Berlin und Norddeutschland. Otzen führte die vom Stadtentwickler Carstenn 1863 begonnene städtebauliche Gesamtplanung der Villenkolonien Lichterfelde aus, in deren Rahmen nach seinen Plänen neben dem Gesellschaftshaus mehrere Villen entstehen. Weitere Bauten Otzens in Berlin sind z.B. die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg sowie die Lutherkirche in Schöneberg.

Das Gesellschaftshaus 1870-1889

 Das Gesellschaftshaus wird 1870/71 erbaut und ist umgeben von einem später schattigen zwei Hektar großen Park mit kleinem See. Das Grundstück, dessen zentraler Eingang im Bogen des Jungfernstiegs vor der Boothstraße liegt, wird an den Seiten linkerhand von der Gemarkungsgrenze nach Lankwitz und rechterhand von der Gartenstraße begrenzt und erhält die Hausnummer 14, die jedoch nicht der heutigen Nummerierung entspricht. Hinter dem Haus verläuft parallel zu den Bahngleisen der Anhalter Eisenbahn-Gesellschaft die Blumenstraße, die heute gemeinsam mit der Gartenstraße den Namen Bruno-Walter-Straße trägt.

Otzen entwirft ein zweistöckiges, ockerfarbenes Backsteingebäude im neogotischen Stil mit von Holzpergolen bedeckten Terrassen und Balkonen sowie einem dombekrönten Turm. Es beherbergt ein Restaurant, mehrere Zimmer als Übernachtungsmöglichkeit für Wochenendausflügler, verschiedene Säle, eine Kegelbahn, Billardtische und einen Lesesalon.

In unmittelbarer Nähe eröffnet 1868 die Eisenbahngesellschaft durch Finanzierung Carstenns den Bahnhof Lichterfelde, heute Lichterfelde-Ost. Hier verkehren nun die wohlhabenden Lichterfelder*innen und Gäste aus dem nahen Berlin, doch reichten die Besucherzahlen für einen wirtschaftlichen Betrieb des Gesellschaftshauses wohl nicht lange aus.

Das Privatsanatorium für Nervenkranke und Erholungsbedürftige 1889-1939

1889 erwerben der Arzt Dr. Max Goldstein und der Kaufmann Jacques Aron das Gesellschaftshaus und bauen es zu einem Sanatorium für Nervenkranke und Erholungsbedürftige um, das im Juni 1889 den Betrieb aufnimmt. Nun gibt es im Erdgeschoß neben dem großen Speisesaal, ein Sprechzimmer und ein Behandlungszimmer der Ärzte sowie ein Wartezimmer, ein Lese- und Bibliothekszimmer, die Küche sowie weitere Wirtschaftsräume und Räume für das Personal. Hinzukommen „[…] neben den Wohnungen der dirigirenden Ärzte einige zwanzig grosse Krankenzimmer, welche zum Teil auf Balkons, zum Teil auf Veranden münden und durch letztere direkten Zutritt zum Garten gewähren.“

Neben den beiden Nervenärzten Dr. Goldstein und Dr. Lilienfeld sind in der Regel ein Verwaltungsleiter, eine Oberschwester, etwa zehn Krankenpfleger*innen sowie weitere Hausangestellte tätig. Aufgenommen werden neben erholungsbedürftigen Privatpatient*innen, solche mit funktionellen und organischen Erkrankungen des Nervensystems oder Morphium- und Alkoholabhängigkeit zur temporären Behandlung. Ausdrücklich ausgeschlossen von der Behandlung sind „Geistes- und Infektionskrankheiten aller Art“.

1892 lässt sich Jacques Aron im Jungfernstieg 12a eine repräsentative Villa bauen, die noch heute den Namen Haus Aron trägt. Bereits zehn Jahre nach der Eröffnung wird das Sanatorium 1899 im hinteren Grundstücksbereich an der Blumenstraße 9 durch einen dreigeschossigen Neubau erweitert, der mit dem Gesellschaftshaus durch einen langen Wandelgang verbunden ist. Das Haus verfügt nun insgesamt über 38 Krankenzimmer, die auch im Neubau zum Garten hin zum Teil mit Balkonen ausgestattet sind. In den folgenden Jahren erhält das Grundstück an der Grenze zu Lankwitz einen Gartenpavillon und eine hölzerne Sommerkegelbahn, einen Pferdestall, der später als Garage und Leichenhalle genutzt wird, ein Gewächshaus und einen Wirtschaftsgarten.

Ab Mai 1895 führt eine eingleisige Straßenbahnlinie vom Bahnhof Lichterfelde durch den Jungfernstieg und die Boothstraße zum Bahnhof Steglitz. Eine Haltestelle liegt direkt vor der Tür des Sanatoriums.

In dem viele Jahre später aus der Erinnerung gezeichneten Lageplan des Grundstücks fehlt der in der Beschreibung des Gesellschaftshauses erwähnte See, der wahrscheinlich aber erst in den 1940er Jahren zugeschüttet wurde.

Anfang 1900 erwirbt Max Goldstein schräg gegenüber im Jungfernstieg 18 eine Villa als Wohnhaus der Familie.

Mit dem Tod des Mitbegründers Jacques Aron wird er alleiniger Besitzer des Sanatoriums.

Als Max Goldstein im März 1918 im Alter von 63 Jahren stirbt, übernehmen seine Witwe Julie Goldstein die Verwaltungsleitung und Anfang der 20er Jahre ihr Bruder, der Sanitätsrats Dr. Carl Oestreicher die ärztliche Leitung des Hauses, das nun unter dem Namen Sanatorium Lichterfelde geführt wird. Dr. Carl Oestreicher war zudem Leiter einer Nervenheilanstalt in Niederschönhausen.

Infolge eines Brandes müssen in den 1920er Jahren die Kuppel sowie das Dachgeschoss des Haupthauses umgebaut werden. Dabei wird das Kuppeldach durch ein einfaches Spitzdach ersetzt.

1926 kommen Dr. Ernst Levy als Haus- und Nervenarzt und 1927 Assistenzarzt Manfred Sakel an das Sanatorium. Aufzeichnungen Sakels lassen Rückschlüsse auf die Klientel des Sanatoriums zum Ende der 20er Jahre zu: aus einem Zufall heraus entwickelte er während seiner Zeit im Goldstein ́schen Sanatorium die Insulinschocktherapie, mit der er, wie er schreibt, in Folge „eine Vielzahl morphiumsüchtiger Schauspieler, Künstler und Ärzte in der Entzugstherapie behandelte“.

Anfang 1930 löst Dr. Kurt Mendel, Sohn des Berliner Neurologen Emanuel Mendel, Carl Oestreicher als Leitung des Hauses ab. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung geht Sakel 1933 zunächst nach Wien, später emigriert er nach New York, wo er 1957 stirbt. Seine Stelle übernimmt Dr. Martin Kuttner.

Wie konkret das Goldstein ́sche Sanatorium und seine Mitarbeiter*innen von den antijüdischen Boykottmaßnahmen, insbesondere denen am 1. April 1933, betroffen war, ist nicht bekannt. Im ganzen Land stehen andiesem Tag uniformierte, teils auch bewaffnete SA-, HJ- und Stahlhelm-Posten vor jüdischen Geschäften, aber auch Arztpraxen und Anwaltskanzleien und hindern etwaige Besucher*innen daran, diese zu betreten. Schilder und Plakate fordern: „Deutsche! Wehrt euch! – Meidet jüdische Ärzte!“. Praxisschilder werden mit dem Aufkleber „Achtung Jude! Besuch verboten!“ überklebt.

1935 stirbt Julie Goldstein und ihre Tochter Charlotte Goldstein übernimmt die Leitung des Hauses. Unter den Repressionen des NS- Regimes wird es für sie jedoch zunehmend schwerer, das Sanatorium in seiner bisherigen Form zu betreiben. Ein Großteil der Zimmer ist inzwischen mit älteren Dauerbewohnern belegt. Auch wird ihr, so schildert sie es Ende der 1950er Jahre in einem Wiedergutmachungsverfahren, ein „Aufseher“ beige-ordnet, der sie immer wieder bedrängte, Grundstück und Sanatorium zu verkaufen.

Gab es Ende 1936 in Berlin noch rund 2.140 jüdische Ärzte und Ärztinnen, so reduziert sich diese Zahl bis zum Juli 1938 auf rund 1.560. Mit der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz wird zum 30. September 1938 ausnahmslos allen jüdischen Ärzten und Ärztinnen die Approbation entzogen. Um dennoch eine ärztliche Versorgung jüdischer Patienten zu ermöglichen, wird der Begriff des „Krankenbehandlers“ eingeführt, unter dem nun jüdische Ärzt*innen ausschließlich jüdische Patient*innen behandeln dürfen. Die Zahl der hierfür zugelassenen Ärzt*innen ist streng limitiert. 

Für Berlin wird ein Verhältnis von einem Arzt auf 1.200 Juden festgelegt und über den Zeitraum von 1938 bis 1945 etwa 370 Krankenbehandler*innen die Zulassung erteilt.

Diese müssen nun sowohl jüdische Einrichtungen und Anstalten versorgen wie auch alle fachärztlichen Leistungen übernehmen. Das Sanatorium Lichterfelde zählt zu den wenigen Berliner Privatkliniken in jüdischer Hand, die zunächst noch toleriert werden.

Dr. Ernst Levy und Dr. Kurt Mendel erhalten eine Zulassung als Krankenbehandler für Nervenkrank- heiten. Während Ernst Levy im Sanatorium bleibt, verlässt Dr. Mendel das Haus nach fast 20 Jahren.16 Ob das für Krankenbehandler*innen vorgeschrie- bene blaue Praxisschild mit blauem Davidstern auf gelbem Kreis nun im Außenbereich des Sanatori- ums angebracht werden muss, ließ sich bisher nicht ermitteln.

Das Jüdische Siechenheim 1939 – 1941

Nach den Novemberpogromen 1938 steigt die Zahlder Ausreiseanträge sprunghaft an: Bis Kriegsbeginn emigrieren noch einmal etwa 32.000 Juden und Jüdinnen aus Berlin. Wer kann, verlässt das Land.

Auch Dr. Martin Kuttner emigriert mit seiner Familie nach England. Wer bleiben muss, den zwingt der Erlass des „Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden“ im April 1939 nicht selten zur Aufgabe der eigenen Wohnung. 

Zudem werden Juden und Jüdinnen aus öffentlichen Heimen ausgeschlossen, so dass 1939 die Zahl der jüdischen Alten und Pflegebedürftigen stark ansteigt. Allein in Berlin gibt es 3.000 Vormerkungen für einen Altersheim- und 300 für einen Siechenplatz. Zwar gibt es in der Stadt 13 jüdische Altersheime mit 1.683 Plätzen und 2 Siechenheime mit 265 Betten. Diese sind aber bereits mehr als voll belegt.

Für Dr. Kuttner kommt um 1938 der Hamburger Dr. Ernst Levy als Nerven- und Hausarzt an das Sanatorium.

Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, ein im Juli 1939 zwangsweise angeordneter Zusammenschluss aller jüdischen Verbände und Gemeinden, dem die Verantwortung für die Organisation und Finanzierung der jüdischen Wohlfahrtspflege übertragen wird, bemüht sich, weitere Plätze zu schaffen, indem sie die Kapazitäten bestehender Einrichtungen ausweitet, zusätzliche Häuser, meist aus zwangsverwaltetem jüdischen Besitz, anmietet und bestehende jüdische Einrichtungen umwidmet.

Aus diesem Grund tritt die Reichsvereinigung im Sommer 1939 auch an Charlotte Goldstein heran. Da diese sich inzwischen entschlossenen hat ihrer Familie in die Emigration nach Schweden zu folgen, kommt es im Herbst 1939 zu Verhandlungen über einen Pachtvertrag.

Der Entwurf des Vertrages20 sieht zunächst eine Geltungsdauer von drei Jahren und einen monatlichen Pachtzins von 1.000 RM vor. 

Die Reichsvereinigung wird das gesamte Inventar des Sanatoriums erwerben und verpflichtet sich, das Personal, soweit möglich, zu den bisherigen Bedingungen zu übernehmen. Anderenfalls erhält das Personal entsprechende Abfindungen. Auch ein bisher im Sanatorium beschäftigte Arzt soll übernommen werden. 

Allen Insassen, so sieht es der Vertrag vor, kann bis zum nächsten vertraglich zulässigen Termin gekündigt werden. Bis dahin soll die Reichsvereinigung aber deren Betreuung gemäß der laufenden Verträge übernehmen. Charlotte Goldstein, so wird vereinbart, wird für eine Übergangszeit die Leitung des Hauses beibehalten.

Nachdem der Vertrag im November 1939 unterzeichnet wird, emigriert sie jedoch bereits im Dezember mit ihrer Schwester und den Kindern nach Schweden. Dr. Ernst Levy bleibt als Krankenbehandler weiterhin im Jungfernstieg 14 tätig.

Noch vor Verpachtung an die Reichsvereinigung wäre es beinahe schon einmal zur Schließung des Sanatoriums gekommen: Das Tiergesundheitsamt der Landesbauernschaft Kurmark musste seine Amtsräume in der Reinhardtstraße in Berlin-Mitte räumen. Als neuen Sitz für die Dienststelle hatte man sich das Gebäude des Goldstein ́schen Sanatoriums in Lichterfelde ausgesucht und eine Zwangsarisierung des Grundstücks beantragt. Diese wurde jedoch, aus heute unbekannten Gründen, vom Oberbürgermeister der Stadt abgelehnt.

Zum 1.2.1940 wird das Sanatorium Lichterfelde von der Reichsvereinigung übernommen und in ein Alten- bzw. Siechenheim umgewandelt. Hierbei bleibt der äußere Zustand der Gebäude und des Parkes zunächst weitgehend unverändert. Die Belegung der Häuser wird jedoch stark erhöht und bis Ende 1941 auf mehr als 80 Insassen anwachsen.

In dieser Zeit kommen Hermann Doeblin als wirtschaftlicher Verwalter und Dr. Eugen Messerschmidt als weiterer Arzt in den Jungfernstieg. Margarethe Elkan, die bereits unter Charlotte Goldstein das Haus als Wirtschaftsleiterin führte, wird ebenso wie einige Krankenschwestern und -pfleger sowie Hausangestellte von der Reichsvereinigung übernommen.

Schon bald beherbergt das Jüdisches Siechenheim nicht nur älterer Mitbewohner*innen Berlins, sondern dient der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland auch zur Unterbringung der aus anderen Gebieten und Städten ausgewiesenen Jüdinnen und Juden. So kommen von Februar bis Mai 1940 rund 40 vorher in Schneidemühl (Westpreußen) inhaftierte Menschen in den Jungfernstieg.

2Allein am 27. Februar werden neun Personen mit einem Krankentransport aus Schneidemühl in das Siechenheim überführt.

1941 finden sich für den Jungfernstieg 18 im Berliner Adressbuchs statt der bisher dort über Jahrzehnte aufgeführten Familie Goldstein zwei neue Bewohnerinnen: Margarethe Elkan und Berta Jacoby, beide Mitarbeiterinnen des Siechenheimes. 

Wahrscheinlich wohnen mit ihnen noch weitere Beschäftigte des Hauses im ehemaligen Wohnhaus der Familie Goldstein, werden die bisherigen Personalwohnungen im Jungfernstieg 14 doch zur Unterbringung weiterer Bewohner benötigt

Zum 1. April 1941 übernimmt die Jüdische Gemeinde Berlins, die sich mit diesem Datum Jüdische Kultusvereinigung zu Berlin e.V. nennen muss, von der Reichsvereinigung den Pachtvertrag mit den Goldstein ́schen Erben und die Verwaltung des Siechenheimes.

Wie auch in anderen von der Reichsvereinigung oder der Kultusvereinigung betriebenen Heimen verschlechtern sich die Lebensbedingungen im Siechenheim von Monat zu Monat. Mehrere Menschen teilen sich die in der Zeit des Sanatoriums als Einzelzimmer vorgesehenen Räume, die Verpflegung wird einfacher und einfacher, und wer kann, wird zur Mitarbeit in Haus und Garten herangezogen.

Den Insassen, so sieht es eine Anweisung der Reichsvereinigung vor, soll „lediglich ein Bett, ein Stuhl und ein Schrank verbleiben; das übrige Mobiliar ist zu entfernen, um eine dichtere Belegung der Heime zu ermöglichen.“

Zum Ende des Jahres muss das Siechenheim im Dezember 1941 auf Anweisung des RSHA geräumt werden. Bereits im November 1941 finden sich die ersten Namen von Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen des Heims auf den Deportationslisten der Gestapo.

Die übrigen rund 80 Insassen werden zum größten Teil im Altenheim in der Elsässer Straße 85 aufgenommen.

Einzelne kommen in andere Heime oder als Untermieter in Privatwohnungen unter. Das Personal wird zunächst in anderen Heimen und Lagern weiterbeschäftigt.

Das ehemalige Wohnhaus der Goldsteins im Jungfernstieg 18 wird bereits im September 1941 von der Reichspost übernommen und später dem auf dem Nachbargrundstück Jungfernstieg 19 wohnenden und arbeitenden Forscher Manfred von Ardenne überlassen, der in dem Haus ein Forschungslabor einrichtet.

Längst sind nicht alle Namen derer bekannt, die zwischen 1939 und 1941 im jüdischen Siechenheim in Lichterfelde lebten und arbeiteten. Im Rahmen der Recherche fanden sich Hinweise auf mehr als 120 Menschen. Für bisher dreißig von ihnen konnten, wenn auch oft nur lückenhaft, Spuren ihres Lebens zusammengetragen werden. Ein Großteil der aus anderen Teilen des Landes in das Heim überführten Menschen starb bis zur Schließung des Hauses. 

Bei mindestens vier von ihnen war es eine erzwungene Flucht in den Tod. Von den namentlich bekannten 26 Mitarbeiter*innen überlebten nur drei den Holocaust. Mehr als 45 Menschen wurden, meist mit ihren Familienangehörigen, mit den Ost- und Alterstransporten zwischen 1941 und 1944 aus Berlin in Vernichtungslager deportiert und kamen dort um.

Familie Goldstein kehrte nach ihrer Emigration nicht mehr nach Deutschland zurück.

 

Nach Auflösung des Siechenheimes 1942 – 1945

Zum Ende des Jahres 1941 beschlagnahmt die SS das Gelände im Jungfernstieg 14 und nutzt die Gebäude als SS-Kaserne. Nun ziehen Soldaten einer Wachkompanie in das ehemalige Gesellschaftshaus.

Der Wandelgang zwischen den beiden Häusern wird ebenso abgerissen wie der Holzpavillon und die Sommerkegelbahn. An den Grundstücksecken werden Wachtürme errichtet und aus der Liegewiese durch Aufschütten von Schlacke ein Appellplatz gemacht, der von zwei Stein- und einer Holzbaracke begrenzt ist. Hinter der Holzbaracke wird ein Schwimmbassin ausgehoben.

In der Lankwitzer Bombennacht vom 23.August 1943 werden nahezu 85 % der Gebäude der Stadtteile Südende, Lankwitz und Lichterfelde-Ost zerstört. Auch die Gebäude des Jungfernstieg 14 und 18 sind davon betroffen. Dach und Obergeschoss des Gesellschaftshauses brennen nahezu vollständig aus. 

Sie werden abgetragen und das Erdgeschoss erhält ein Behelfsdach. Der Erweiterungsbau des Jahres 1899 ist vollständig zerstört. Er wird unter Einsatz von Zwangsarbeitern abgetragen und Teile des Baumaterials zur Errichtung einer weiteren Steinbaracke auf dem Gelände genutzt.

Das Wohnhaus im Jungfernstieg 18 ist so sehr zerstört, dass es nicht mehr bewohnt werden kann.

 

Ab Mai 1945

Nach dem Krieg sind Gebäude und Grundstück im Jungfernstieg 14 in einem desolaten Zustand. Sie werden zunächst von der amerikanischen Armee genutzt, die auf dem Gelände einen Motorenpark unterbringt.

Im Frühjahr 1946 pachtet die Firma BRAM Chemische Fabrik und Seruminstitut, die ursprünglich in Berlin-Zehlendorf ansässig war, das Hauptgebäude und einige der Baracken.

Zudem übernimmt das Bezirksamt Steglitz zwei Baracken und richtet dort Lehrwerkstätten ein.38 Auf diese Weise werden Gelände und Gebäude noch bis in die 1960er Jahre hinein genutzt.

1962 erfolgt der Abriss aller Gebäude und die wechselvolle Geschichte des Gesellschaftshauses findet nach gerade einmal 90 Jahren ihr Ende.

Mitte der 1960er Jahre wird das Grundstück neu parzelliert und mit dreistöckigen Mietshäusern bebaut. Vom einstigen Park mit See finden sich heute keine Spuren mehr.

Auch das Gebäude im Jungfernstieg 18 existiert nicht mehr. Einzig die Villa Aron im Jungfernstieg 12a ist bis heute erhalten geblieben.

Nina Haeberlin

Stolpersteininitiative der Markusgemeinde Berlin-Steglitz

19. März 2021

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