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In ihrer Einzelausstellung The First Finger (chapter II) transformiert Tolia Astakhishvili (*1974 in Tbilisi, Georgien) das Haus am Waldsee im Zuge einer raumgreifenden Installation. Neben baulichen Interventionen, Zeichnungen, Malereien, Text und Videos umfasst die Ausstellung neue kollaborative Arbeiten mit Zurab Astakhishvili, Dylan Peirce und James Richards sowie Beiträge von Antonin Artaud, Alvin Baltrop, Kirsty Bell, Nat Marcus, Vera Palme, Andreas Rousounelis, Judith Scott, Ser Serpas und Giorgi Zhorzholiani.
Am Anfang von The First Finger steht das Bild einer physischen Grenzerfahrung: Ein extremer Kälte ausgesetzter Körper muss Prioritäten setzen, um sich als Ganzes zu schützen. Für sein Überleben rationiert er seine Energie und opfert Stück für Stück, Finger für Finger, seine verzichtbaren Gliedmaßen, um den Blutfluss zu den wichtigsten Organen im Zentrum zu gewährleisten. Diese körperliche Reduzierung auf einen lebenserhaltenden Kern bildet für Astakhishvili den Anknüpfungspunkt für die titelgebende Metapher der Ausstellung, die grundlegende Überlegungen zu den Bedingungen von Leben und Lebendigkeit, Schutz und Verzicht anstößt.
In ihrer Arbeit und mit Hilfe verschiedener Ausdrucksformen befasst sich Tolia Astakhishvili intensiv mit Fragen des Raums; wie sich dieser konstituiert und wie er gelebte Realitäten spiegelt. Ihre Arbeiten spüren den Strukturen und Narrativen existierender Gebäude nach und beschwören durch temporäre Ein- und Umbauten reale und imaginäre Geschichten herauf. Auch im Haus am Waldsee widmet sich Tolia Astakhishvili der materiellen Beschaffenheit der Institution, erkundet ihre architektonischen Schichten und Randbereiche. Mittels vorgefundener Materialien und baulicher Interventionen verdichtet sie die Räume des ehemaligen Wohnhauses zu einer eindringlichen und fragilen Umgebung, in der sie die existenzielle Bedingtheit des Menschen in seiner Beziehung zum Raum erkundet.
Insbesondere Wohnräume stehen oft sinnbildlich für Orte des Rückzugs, die das Private schützen und in denen physische Integrität gewahrt werden kann. In ihrer Ausstellung lässt Astakhishvili diese Vorstellung brüchig werden. So ist zu erahnen, dass „das Zuhause“ weder ein stabiles Konzept ist, noch ein sicherer Ort sein muss, der existenziellen Halt gibt, sondern mitunter auch ein Ort des Widerstands, des Konflikts oder der Gewalt sein kann. Diese spannungsvolle Beziehung zwischen Individuum und Raum sowie den mentalen und physischen Wechselwirkungen zwischen einer abgeschlossenen Umgebung und seinen Bewohner*innen macht Astakhishvili in ihrer Ausstellung erfahrbar.
Ausgehend von intimen, feinen Zeichnungen spürt sie den Atmosphären der Umgebung nach, verdichtet und verändert sie. Durch die Umgestaltung architektonischer Strukturen, wie dem Errichten von Wänden aus Rigips, dem Einsetzen neuer Fenster oder der Verengung von Durchgängen, navigiert sie alternative Möglichkeiten zur Bewegung und Orientierung im Raum. Diese neu definierten Trennungen und Distanzen ermöglichen und erfordern es, die eigene körperliche und geistige Beziehung zu einem Außen neu auszutarieren.
Architektur und Malerei gehen fließend ineinander über und lösen die Grenzen zwischen Texturen beinahe vollends auf. Objekte und Sounds verweisen gleichzeitig auf Spuren des Auf- und Abbaus, auf nicht mehr anwesende Existenzen sowie abstrakte Träume, Emotionen und Visionen. Astakhishvili lässt verschiedene Orte und Realitäten der Imagination und der Wirklichkeit zusammentreffen und nebeneinander koexistieren. Materielle Spuren werden zu ambivalenten Markierungen von Vergangenem und offenbaren das bauliche Gefüge als Behältnis von sich überlagernden Geschichten und Bildern. Auch Werke anderer Künstler*innen sind Teil dieser Konstellation und erweitern Astakhishvilis Prozesse der Schichtung und Verdichtung.
So ergibt sich in den Räumen ein fragiles und spannungsreiches Gefüge, das sich jeglicher Konzentration auf ein Zentrum entzieht. Die poetische Kraft und formale Stringenz dieser mehrdeutigen Umgebung lädt dazu ein, die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die in ihr aufscheinen, sowie das Verhältnis von Mensch und Architektur tiefer zu ergründen.
The First Finger wird in zwei Kapiteln realisiert: Das erste Kapitel findet im Bonner Kunstverein statt, kuratiert von Fatima Hellberg (25. März–30. Juli 2023) und das zweite Kapitel im Haus am Waldsee in Berlin, kuratiert von Beatrice Hilke (23. Juni–24. September 2023).
Die begleitenden Veranstaltungen zur Ausstellung umfassen unter anderem ein von Tolia Astakhishvili und Simon Lässig konzipiertes Filmprogramm am 2. Juli sowie eine Lesung von Kirsty Bell am 26. August.
https://hausamwaldsee.de/aktuell/
23.06.2023 - 24.09.2023
ganztägig
Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30
Berlin