Der Dicke von nebenan (1999)

Viele Jahre war eine gewisse Leibesfülle so etwas wie mein Markenzeichen. Der gemütliche Dicke aus Zehlendorf. Der von nebenan. Rund und gesund.

Im gleichen Maß, wie sich das Haupthaar lichtete, wurde die Fülle immer fülliger, die Fußspitzen unsichtbar und beim schnellen Umdrehen brauchte der Bauch immer etwas länger als der Rest des Körpers. Beim Aussteigen aus dem Bus krachten die Kniegelenke und als beim Wiegen ein zartes Rauchwölkchen aus der elektronischen Waage durch das Badezimmerfenster wehte, da stand fest: Der Dicke war nicht mehr dick, er war fett geworden.

Als erste Sofortmaßnahme wurde eine sehr umfangreiche Kalorientabelle erworben. Ihr Studium ließ mich erbleichen und auf die schlichte Erkenntnis kommen: Alles was schmeckt ist verboten, erlaubt ist der Rest.

Nach einem opulenten Abendbrot und etwas Schokolade als Betthupferl beschloss ich, die Sache noch Mal zu überschlafen.

Um es kurz zu machen, die Aktion wurde erfolgreich. Bis jetzt sin rund zwanzig Kilo runter, weitere zehn sollten es vielleicht noch werden.

Bei 108 Kilo, so um den letzten Geburtstag herum (Kein Eisbein, keine Torte (!), kein Eis), traf ich den Nachbarn bei Kaiser´s in der Clayallee: “Haben Sie abgenommen?” Ich murmelte kraftlos: “Nicht der Rede wert.”

Ab 100 Kilo funktionierte die Waage wieder. Aber ich ertappte mich zunehmend dabei, wie ich mit rot unterlaufenden Augen um Krasselts Currywurststand schlich und hörbar die Luft einsog. Die Familie meidet meine Nähe, nachdem ich der Großen ihr Eis entriss und irre lachend das Weite suchte.

So um die 90 Kilo war der Erfolg schon deutlich sichtbar. “Können Sie sich noch an den Dicken erinnern, der hier früher immer die Reportagen für die Lokalzeitung gemacht hat?”, fragte ich die Leiterin einer Zehlendorfer Senioreneinrichtung kokett. Die Antwort: “Wieso? Ist er tot?”. Sie hatte mich nicht erkannt.

Mein Freund Harry, auch er mit keiner Idealfigur gesegnet, lästerte zunächst, schaute dann immer neidischer, räumte schließlich seinen Kühlschrank aus und hat inzwischen etliche Kilo abgespeckt.

Als ich neulich bei ihm war roch es allerdings intensiv nach Gebratenem. Seine Küche durfte ich nicht betreten. Verräter!

Dafür versucht versucht meine geduldige Gefährtin (Figur eher griffig) Hilfe zu leisten. Ab und zu backt sie einen Kuchen für sich und die Kinder, verscheucht mich von den Teigschüsseln und achtet peinlich darauf, ihre Pommes mit Mayonaise immer in meiner Abwesenheit zu vertilgen.

Egal! Ich werde durchhalten und die letzten Pfunde auch noch los werden. Dann bin ich zwar auch nicht schöner, aber schön gesund. Und darauf rauchen wir erst Mal eine.

Rainer Peterburs

Über Rainer Peterburs

lebt und arbeitet in Berlin: www.rainer-peterburs.de
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