Zu Ende des letzten Jahres waren die AnwohnerInnen der hinter dem neuen Einkaufszentrum „Boulevard Berlin“ an der Schlossstraße gelegenen Treitschkestraße aufgerufen über den Namen ihrer Straße abzustimmen.
Wer war Treitschke?
Heinrich von Treitschke (1834-1896) war in seiner Zeit einer der tonangebenden deutschen Historiker. Daneben war er Publizist und von 1871 bis 1884 Mitglied des Reichstages. Zunächst eher liberal geprägt, wurde die Einigung und Vormachtsstellung des preußischen Staates immer mehr sein Hauptaugenmerk, dem er die Objektivität in der Geschichtsschreibung ausdrücklich unterordnete. Als entschiedene Gegner und Hindernisse dieser Vormacht und Einheit Preußens sah er die süddeutschen Monarchien, Frankreich und die jüdische Bevölkerung Deutschlands. Einen angeblich große Umfang jüdischer Zuwanderung über Polen prangerte er darüber hinaus an, ohne Zahlen zu nennen oder Belege dafür zu liefern, was schon damals bei Historikerkollegen teils auf Kritik stieß. 1879 schließlich veröffentlichte Treitschke den Aufsatz „Unsere Aussichten“, in dem sich auch sein Satz „Die Juden sind unser Unglück“ findet. Treitschke selbst grenzt sich jedoch von „Radau-Antisemiten“ ab und gibt seiner Meinung nach mit dem Satz nur eine aktuelle Einstellung wieder („Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“). Er fordert eine starke Anpassung und Unterwerfung der Juden an den preußischen Staat, gerade damit keine Vertreibung stattfinden müsse. Diese Methode ist sehr diffizil und es greift daher zu kurz, Treitschke als plumpen Antisemiten zu brandmarken.
Historische Bedeutung
Insbesondere der schon erwähnte Satz „Die Juden sind unser Unglück“ löste in Deutschland den so genannten „Treitschkestreit“ (erst später als „Antisemitismusstreit“ bezeichnet) aus: vor dem Hintergrund von Krisen in Industrie und Landwirtschaft wurde der angeblich negative Einfluss des „jüdischen Wesens“ auf das Kaiserreich diskutiert und damit agitiert. Während Treitschke selbst sich von Rassentheoretikern distanzierte und als Politiker die „Antisemitenpetition“ (Ausschluss jüdischer Mitbürger von allen hohen Staatsämtern) nicht unterzeichnete, wurde Antisemitismus immer mehr und auch bis ins Bildungsbürgertum hinein gesellschaftsfähig, das besagte Zitat wurde Titelslogan des 1923 gegründeten nationalsozialistischen Hetzblattes „Der Stürmer“
Die Auseinandersetzung um die Treitschkestraße in Steglitz
Wie geht man nun also mit einer nach Heinrich von Treitschke benannten Straße in unserem Bezirk um? Verherrlicht ein solcher Straßenname einen der Wegbereiter des Antisemitismus in Deutschland? Wie währt man der Anfänge von Antisemitismus, wenn man jegliche Erinnerung daran kommentarlos aus dem Straßenbild tilgt und in Vergessenheit geraten lässt?
Bereits in der vorigen Legislaturperiode einigten sich die Zählgemeinschaftspartner Bündnis 90/Die Grünen und CDU mit Mehrheit in der BVV aus diesen Erwägungen heraus bereits auf den Ansatz der Erinnerungskultur als Konzept im Umgang mit dem Straßennamen, aber auch mit anderen Stätten oder Zeichen von Antisemitismus und Rassenhass: zentraler Ansatz ist der lebendige Diskurs, der Wissen und Meinungsbildung zum Thema aktuell hält. In diesem Rahmen wurden immer wieder Mahn- und Infostelen im Bezirk errichtet, Veranstaltungen abgehalten und Publikationen herausgegeben. Der an die Treitschkestraße angrenzende Park wurde in „Harry-Breslau-Park“ (nach einem der wichtigsten akademischen Kontrahenten im Antisemitismusstreit) umbenannt. Wichtiger Teil dieses Prozesses war nun die Bürgerbefragung der Anwohner und Anwohnerinnen der Treitschkestraße. Sie waren per Brief des Bezirksamtes dazu aufgerufen, über eine gewünschte Umbennnung abzustimmen. Somit fand eine aktive persönliche Auseinandersetzung mit diesem Thema statt, die im schulischen Geschichtsunterricht in der Regel eher nur sehr kurz vorkommt. Aus genau diesem Grund macht es auch keinen Sinn -wie gelegentlich polemisch entgegen gehalten wird- etwa eine Hitlerstraße einzurichten: dessen Taten werden im Geschichtsunterricht wesentlich breiter behandelt.
Ein breites Bündnis rief die Bürger in diesem Zusammenhang dazu auf, für eine Umbenennung zu stimmen, um nach eingehender Auseinandersetzung nun ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Entsprechende Infomedien hätten im Sinne der Erinnerungskultur aber auch dann weiter darüber informiert, welcher Straßenname hier einst war.
Die Befragung
Die Bürgerbefragung endete mit Frist zum 17. Dezember 2012, eine Woche später gab es dazu eine öffentliche Auszählung der Stimmen:
Insgesamt wurden 428 Abstimmungsbriefe versandt, 305 davon kamen zum Amt zurück, was eine gute Beteiligung von 71,26% entspricht. Festhalten lässt sich also, dass die BürgerInnen generell Interesse an der Befragung zeigten. 15 Stimmzettel mussten leider als ungültig angesehen werden, da sie nicht die Formalitäten erfüllten.
Das Ergebnis fiel mit 64 Stimmen (22,07%) für und 226 Stimmen (77,93%) gegen eine Umbenennung sehr deutlich aus.
Und wie weiter?
Das Ergebnis zeigt, dass weitere Aufklärungsarbeit zu Treitschke nötig ist. Ein einfaches Abhängen der Straßenschilder bewirkt keine tiefgreifende Reflektion über Treitschke. Somit ist und bleibt die Treitschkestraße ein Stolperstein im Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Eine Umwidmung der Straße (z.B. nach dem Verwandten und Insektenforscher Treitschke wie von der Fraktion der Piratenpartei vorgeschlagen) ist keine angemessene Aufarbeitung.
Quellen:
Primärquelle:
Treitschke, Heinrich von: Unsere Aussichten, http://www.gehove.de/antisem/texte/treitschke_1.pdf (abgerufen am 20.08.2012)
Sekundärquelle:
Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914. Göttingen 2004, S. 263.
Die Befragungsergebnisse online beim Bezirksamt:
www.berlin.de/ba-steglitz-zehlendorf/verwaltung/wahlamt/buergerwille-treitschkestrasse.html
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