Kommentar: Stand der Dinge – Marginalisierung und Nudging

Von der öffentlichen Analyse in den klassischen Medien wenig beachtet läuft einer der großen Trends unserer Zeit: Marginalisierung, d.h. die Ausgrenzung von Individuen und Menschengruppen aus der Gesellschaft an ihren Rand. Was das bedeutet, zeigt sich an der aktuellen Entwicklung besonders in den Industrienationen.

Mit der Automatisierung und Digitalisierung der Welt rutscht heute auch die breite Mittelschicht in die Gefahr des Verlustes ihres Jobs und damit einer wichtigen Quelle ihrer Rolle in der Gesellschaft. Dies trifft damit Menschen, deren Beziehungsgeflecht ohnehin schon deutlich ausgedünnt ist: Wohnen in der angestammten Nachbarschaft wird durch Gentrifizierung nicht mehr bezahlbar, Vereine aller Art haben Mitgliederschwund und Nachwuchsmangel, (Ehe-)PartnerInnen werden immer mehr zu „Lebensabschnittsbegleitern“, Kneipen und Kirchengemeinden als soziale Treffpunkt haben ihre Bedeutung weitenteils verloren.

Der besagte Job (oder besser gesagt: der feste Arbeitsplatz) bot vormals eine sichere Rolle und damit auch eine Identität – man war einfach „wer“. Klassisches Beispiel war der Industriearbeiter in der Nachkriegszeit: die Arbeit war zwar hart – aber auch gut bezahlt, man behielt sie bis zur Rente und war halt „der Jupp von der Frühschicht“, „der Dieter aus der Werkstatt“, etc. Gab es früher zum Beispiel Hunderte von Arbeitsplätzen in einer Zeche, so ist diese nun geschlossen. Umfasste eine Schicht in einem Kraftwerk Dutzende Arbeiter, so wird das gesamte Kraftwerk nun von wenigen Experten per Mausklick gefahren, Industrieproduktion von Waren findet größtenteils in Niedriglohnländern statt, selbst Dienstleistungen wie Call-Center werden nach Irland oder gar nach Indien ausgelagert.

Zurück bleibt damit bei uns ein entwurzelter Mensch, der eher vom Rande der Gesellschaft zuschaut, als aktiv an ihr teilzunehmen: Marginalisierung und Identitätsverlust.

Folgen

Insbesondere treffen diese Aussagen auch auf die Protagonisten der jüngsten Entwicklungen in Deutschland und Frankreich zu. Sowohl PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann weist in seiner Biographie (Joblosigkeit, Kleinkriminalität, Flucht) ebenso Merkmale dieser Randständigkeit auf wie die salafistischen CharlieHebdo-Attentäter (Heimkinder, arbeitslos, Ghettojugend). Dies zeigt, wie grundlegend falsch die Analyse des NRW-Innenministers Jäger war, der PEGIDA sofort als „Nazis in Nadelstreifen“ bezeichnete – sie tragen keine Nadelstreifen, sondern „Jack Wolfskin“ und „North Face“.

Die vielbeschworenen (und häufig verlachten…) Ängste der PEGIDA-Anhänger sind dabei die nach Verlust ihres Jobs, damit des Standes in der Gesellschaft und somit ihrer Identität. Eine der neueren rechten Bewegungen nennt sich daher gar „Die Identitären“: Nationalismus als letzte Identitätsstiftung. Bekommen Menschen aus anderen Ländern nach Flucht hier eine Starthilfe, so wird dies statt mit positivem Gefühl der Mitmenschlichkeit mit Neid bedacht.

„WIR sind das Volk“-Rufe geben dabei schnell ein kurzes Gemeinschaftsgefühl ebenso wie die Anerkennung, die man nach radikalen Facebook-Kommentaren im eigenen Lager bekommt. Zusammen mit Forenartikeln und Kommentaren unter Online-Artikeln der klassischen Medien lässt sich der Gemeinschafts-Kick quasi auf Knopfdruck erreichen, ohne aus dem Haus zu gehen und Menschen leibhaftig zu begegnen. Ein Kick, der nicht satt macht und schnell wiederholt werden muss – mit noch radikaleren Kommentaren, damit man noch mehr Reaktionen bekommt.

Jenseits dieses Kicks findet sich ein ähnliches Gemeinschaftsgefühl immer häufiger nur noch in radikalen Gemeinschaften – vom salafistischen Jihad-„Bruder“ bis hin zu einem (wohl hauptsächlich in seiner eigenen Einbildung vorhandenen) „Templerorden“, als dessen Mitglied und Vollstrecker sich der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik wähnte.
Auch wenn diese Beispiele Extreme aufzeigen machen sie die Zusammenhänge klar und zeigen, dass weitere Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft nur zu noch mehr Gewalt führen wird.

„Nudging“ – Marginalisierung professionell angewendet als politisches Machtmittel

nudgeWeiter Öl in die Flammen gießt dabei ein politisches Machtmittel, welches gerade besonders aus England zu uns herüber geschwappt kommt: als „Nudging“ bezeichnet man das Vorgehen, Gruppen in „gute“ und „schlechte“ Mitglieder aufzuteilen und die „guten“ mit Privilegien zu belohnen und die „schlechten“ durch Entzug von Rechten zu bestrafen – Zuckerbrot und Peitsche also statt Aufklärung und Respekt vor der Würde des Menschen, eigene Entscheidungen zu treffen. Besonders im Gesundheitssektor ist dies stark auszumachen (s. z.B. http://www.welt.de/politik/deutschland/article134388508/Das-Nudging-soll-die-Deutschen-umerziehen.html). Es bleibt in diesem Rahmen abzuwarten, wann die ersten Krankenkassen auf die Daten aus den neuen digitalen Armbändern zur Aufzeichnung von Kreislauf, Schlaf und Bewegung des Trägers zugreifen und entsprechend gestaffelte Tarife anbieten werden.

Besonderer Vertreter auf dem Mediensektor in Deutschland ist Bertelsmann: über die Stiftung werden immer wieder „Rankings“ über Hochschulen und Länder erstellt, die „gut“ von „schlecht“ trennen – über die Kriterien für die beiden Seiten entscheidet aber freilich Bertelsmann im Hintergrund. Deutlich wird der Ansatz auch im Bertelsmann-Fernsehen RTL: in Eigenproduktionen heißt es immer wieder „gut“ (Oberschicht) gegen „schlecht“ (Unterschicht). Diese Linie zeigt sich in „Big Brother“ mit seiner Aufteilung von in Keller lebenden Teilnehmern und denen oben im Haus bis hin zu „Deutschland sucht den Superstar“ mit Jury (Oberschicht) und Bewerbern (Unterschicht), von den „Geissens“ (Oberschicht) bis hin zu den Bewohnern des Nachmittagsprogramms (Unterschicht). Übliches Narrativ ist hier, dass es ein hilfloses Mitglied der Unterschicht gibt, das sich in Punkto Renovierung („Einsatz in 4 Wänden“), Kindererziehung („Supernanny“), Geschäftsführung („Koch-Profis“, etc.) der Steuerung durch nicht kritisierbare „Experten“ hingeben muss, damit dann (natürlich innerhalb der vorgesehenen Sendezeit) schon alles gut wird. Respektvolle Darstellung eines Individuums aus der Mitte der Gesellschaft, welches sein Leben nach seinen eigenen Werten selbstbewusst gestaltet, kommt im Programm sehr selten vor…
Auf dem administrativen Feld stieg die Bundesregierung offiziell 2014 in dieses Business ein: so suchte und fand das Kanzleramt gleich drei Referenten zu diesem Thema (s. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/kanzlerin-angela-merkel-sucht-verhaltensforscher-13118345.html) und zieht damit Premierminister Cameron in England mit seinem “Behavioral Insights Team” seit 2010 nach, dass sich ziemlich schnell den Kampfnamen “Nudge-Unit” verdiente.

Was tun?

Zentralisiertes Handeln und zwanghafte Kollektivierung im Sinne von Zwangsmitgliedschaften in (Jugend-)Organisationen wie es in jeder Diktatur gibt (z.B. FDJ) mit vorgegebenen Ritualen kann nicht der gewollte Weg zu Gemeinschaftsgefühl sein. Jeder von uns kann nur an seiner ganz eigenen Stelle überlegen, wo er Integration und Gemeinschaft am Arbeitsplatz oder im Privatleben bieten kann. Auch das Kulturleben kann hier einen Beitrag leisten mit gemeinsamen schöpferischen Tätig sein und sonstigen Anlässen zu gemeinsamem Treffen, Reden und Aktivitäten.

Über Carsten Berger

Mitarbeiter der BVV Steglitz-Zehlendorf für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied Kulturausschuss Steglitz-Zehlendorf, Herausgeber KulturInSZ.de Kontakt: info[at]KulturInSZ.de, Twitter: @KulturInSZ
Dieser Beitrag wurde unter Aktuelles abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert